Guancha-Interview: Hans-Josef Fell über Erneuerbare Energien und Klimaschutz mit Lehuan Zheng – Hans-Josef Fell – Botschafter für 100% Erneuerbare Energien

Kürzlich wurde auf Guancha, einer der größten Informationsplattformen Chinas, ein Interview mit mir veröffentlicht.
Hier ist der Link zum Interview auf Guancha:
https://www.holoceneproject.org/holocene-project

Das Interview führte der Journalist Lehuan Zheng.
Guancha erreicht über verschiedene Kanäle eine Leserschaft von 120 Millionen Menschen und wird insbesondere auch im akademischen Bereich häufig gelesen.

Lesen Sie hier die deutsche Übersetzung des Interviews:

Zheng:

Erneuerbare Energien wurden in Deutschland in den 1990er Jahren gefördert. Im Jahr 2000 trat das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in Kraft, das seitdem von vielen Ländern nachgeahmt wurde und die Entwicklung der Erneuerbaren Energien gefördert hat. Welche Hindernisse gab es in dieser Zeit bei der Förderung dieses Gesetzes in Deutschland?

Fell:

Die Verabschiedung des EEG im Jahr 2000 war ein großer Erfolg. Es legte den Grundstein für das exponentielle Wachstum der Erneuerbaren Energien, zunächst in Deutschland und dann in vielen anderen Ländern. Damals wie heute haben die großen Konzerne der Atom- und fossilen Energiewirtschaft (Kohle, Erdöl, Erdgas) gegen das EEG lobbyiert. Auch die konservativen und liberalen Parteien stimmten gegen das EEG. Aber wir Parlamentarier von den Sozialdemokraten und den Grünen blieben standhaft und haben das EEG gegen alle Widerstände verabschiedet.

Zheng:

Seitdem hat Deutschland das Erneuerbare-Energien-Gesetz kontinuierlich überarbeitet. Anfang 2024 erreichte der Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung in Deutschland einen neuen Rekordwert, wobei Windenergie, Solarenergie, Biomasse und Wasserkraft 58% des deutschen Stromverbrauchs deckten. Sind Sie auf der Grundlage dieser Daten der Meinung, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Deutschland effektiv umgesetzt wurde? Was kann/sollte für die weitere Entwicklung in Zukunft tun?

Fell:

Im ersten Halbjahr 2024 lag der Anteil Erneuerbarer Energien an der Nettostromerzeugung bei 65%. Leider wurde das exponentielle Wachstum der Erneuerbaren Energien jedoch durch diverse EEG-Novellen, die von konservativen Politikern ab 2012 eingebracht wurden, abrupt gestoppt. Insbesondere der Solarmarkt und später auch der Windmarkt brachen stark ein. Wäre das exponentielle Wachstum weitergegangen und eine starke Initiative für die Speicherung ergriffen worden, wäre die deutsche Stromversorgung heute bereits zu 100% erneuerbar. Glücklicherweise hat China die technologische Erfolgsgeschichte der Erneuerbaren Energien durch die Übernahme der Grundprinzipien des EEG fortgeschrieben. Als Vorstandsmitglied der deutsch-chinesischen Parlamentariergruppe war ich oft zu politischen Gesprächen in China und habe mich immer für ein chinesisches EEG eingesetzt. Heute ist China der absolute Weltmarktführer für alle Erneuerbaren Energietechnologien, Speicherung und E-Mobilität. Dies ist gut für den Klimaschutz auf dem Planeten Erde, aber ein Problem für die Industrie in Deutschland und Europa, die immer noch zu stark auf fossile und nukleare Technologien statt auf Erneuerbare Energien setzt. Deutschland und die EU müssen sich wieder viel stärker auf Erneuerbare Energien und andere emissionsfreie Technologien konzentrieren. Dies würde den globalen Klimaschutz fördern und die nationale Industrie könnte wieder wachsen, anstatt mit dem Niedergang der fossilen Brennstoffindustrien zu schrumpfen.

Zheng:

Im Jahr 2021 verabschiedete Deutschland das Bundes-Klimaschutzgesetz, das neue Emissionsziele festlegt und bis 2045 auf null Treibhausgasemissionen abzielt, was fünf Jahre vor dem Ziel der EU liegt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Deutschland seine Energieversorgung grundlegend ändern. Welche Anpassungen hat Deutschland an seiner Energiepolitik vorgenommen, um dieses Ziel zu erreichen?

Fell:

In den letzten drei Jahren ist es der Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen gelungen, mit Änderungen am Erneuerbare-Energien-Gesetz den Ausbau Erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Dieser Ausbau ist jedoch noch zu langsam, um die Klimaschutzziele der Regierung zu erreichen.

Auch diese Klimaschutzziele Deutschlands und insbesondere der EU sowie die Ziele aller anderen Nationen sind viel zu schwach, um den Herausforderungen der globalen Erwärmung mit katastrophalen Wetterextremen und steigendem Meeresspiegel zu begegnen. Die Menschheit muss eine Abkühlung der Erde um 1°C anstreben, wie es das erklärte Ziel des chinesischen Konzerns BYD ist, um eine realistische Chance zu haben, die menschliche Zivilisation zu schützen. Dafür müsste die Welt bis 2035 zu 100% auf Erneuerbare Energien umsteigen und viel Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernt werden.

Zheng:

Die deutsche Energiewende wird immer als „Lokomotive Europas“ bezeichnet, ist also Vorreiter bei Reformen. Es gibt aber auch Kritik, dass Deutschlands Umstellung zu schnell und zu radikal erfolgt. Wie sehen Sie das?

Fell:

Diese Kritik kommt von der fossilen und nuklearen Energieindustrie, die eine Umstellung auf 100% Erneuerbare Energien fürchtet, weil dann ihr Geschäft vorbei ist. Wir dürfen dieser schmutzigen und klimaschädlichen Industrie aber keine Beachtung schenken, denn wenn sie so weitermacht, wird die menschliche Zivilisation aufgrund der globalen Erwärmung nicht überlebensfähig sein.

Zheng:

Der Russland-Ukraine-Konflikt im Jahr 2022 hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Energieversorgung und -sicherheit Deutschlands. Deutschland hätte damals beinahe die Kohleverstromung wieder aufnehmen müssen. Wir können sehen, wie instabil die globale Energieversorgungskette heutzutage aufgrund geopolitischer Konflikte ist. Wie können die Probleme wie Energieknappheit und Energieverteilung durch Deutschland vor diesem Hintergrund gelöst werden?

Fell:

Sonne und Wind sind in allen Regionen der Welt im Überfluss vorhanden. Wenn wir überall 100 % Erneuerbare Energie nutzen, wird es keine geopolitischen Verwerfungen mehr geben, wie sie heute im fossilen und nuklearen Energiesystem existieren. Solar- und Windenergie sind die Energien des Friedens, denn man kann keine Kriege um sie führen, man kann keine „Pipeline“ für Sonnenstrahlung zerstören, aber es gibt viele Konflikte und sogar Kriege um Öl, Erdgas, Kohle oder Uran. Eine schnelle Umstellung auf 100 % Erneuerbare Energien wird Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen und Atomkraft bringen und kann damit der Welt Frieden und gleichzeitig billige Energie bringen, da Solar- und Windenergie sowie Batteriespeicher schon heute die billigste Energieerzeugung darstellen.

Globale Zusammenarbeit bei der Emissionsreduzierung

Zheng:

China befindet sich ebenfalls in einem schnellen Energiewendeprozess. Bis Ende August 2024 betrug die installierte Kapazität der Stromerzeugung aus neuen Energien in China 1,27 Milliarden Kilowatt, was 40,7 % der gesamten installierten Stromerzeugungskapazität entspricht, und es wurde eine vollständige Industriekette von Upstream über Midstream bis Downstream gebildet. Einige Leute glauben, dass Chinas Energiewende vom Pfad des hohen Verbrauchs und der hohen Umweltverschmutzung im westlichen Industrialisierungsprozess der Vergangenheit abgekommen ist (natürlich hat China diese Phase auch durchgemacht) und eine Lösung zwischen Entwicklung und Umweltschutz gefunden zu haben scheint. Was ist Ihre Meinung zur Energiewende Chinas?

Fell:

Das chinesische Energiesystem basiert heute hauptsächlich auf Kohle und Öl, etwas Erdgas und Kernenergie sowie zunehmend schnell wachsenden Erneuerbaren Energien. Diese fossilbasierte Energie ist ein großes Problem, da sie China zum größten Emittenten von Treibhausgasen gemacht hat. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien befindet sich jedoch auf einem sehr schnellen, exponentiellen Wachstumspfad. Kein anderes Land der Welt hat mit sauberen Energietechnologien eine so starke neue Industrie aufgebaut. Steigen diese Investitionen in den kommenden Jahren so schnell wie in den letzten Jahren, dann wird China alle Emissionen viel schneller beenden, als es das aktuelle Regierungsziel der Klimaneutralität bis 2060 vermuten lässt. Heute liegt der Anteil fossiler Brennstoffe an Chinas Energieversorgung bei über 80 %. Der China Energy Transformation Outlook 2023 der NDRC zeigt jedoch, dass China den Energiebedarf bis 2040 um 30 % senken kann und der Anteil Erneuerbarer Energien dann deutlich über 50 % liegen kann. Ich glaube, dass bei den aktuellen Wachstumsraten die Erneuerbaren Energien in China sogar vor 2040 100 % erreichen können, wenn der politische Wille so erhalten bleibt wie bisher.

Zheng:

Im August dieses Jahres veröffentlichte Foreign Affairs einen Artikel mit dem Titel „Wie der Kampf gegen den Klimawandel geopolitische Zwietracht überwinden kann“, in dem Chinas beherrschende Stellung auf dem globalen Markt für saubere Energie sowohl in wirtschaftlicher als auch in moralischer Hinsicht beunruhigt wird. Wie sehen Sie die wirtschaftlichen und moralischen Dilemmata, mit denen Europa und die USA derzeit in der Frage des Klimawandels konfrontiert sind?

Fell:

Die wichtigste Aufgabe der Menschheit besteht darin, die menschliche Zivilisation vor dem Aussterben zu bewahren. Die wichtigste Maßnahme hierfür besteht darin, fossile und nukleare Energiequellen durch 100 % Erneuerbare Energie und andere saubere Industrien zu ersetzen. Die Tatsache, dass China in dieser Hinsicht die Weltgemeinschaft mit großem Abstand anführt, ist ermutigend. Europa und die USA sind nicht auf einem solchen Weg, sondern schützen fossile Brennstoffe immer noch zu sehr mit Subventionen und anderen Vorteilen. Europa, die USA und der Rest der Welt sollten sich dieser positiven Entwicklung Erneuerbarer und sauberer Technologien anschließen, indem sie mit China zusammenarbeiten. Zölle, Handelsbarrieren und Sanktionen gegen Klimaschutztechnologien behindern nur die rasche Umsetzung eines wirksamen Klimaschutzes. Die Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg ist auch die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben zwischen den Nationen auf der Erde. Konfrontationspolitik kann schnell zu Kriegen führen, die keiner von uns will.

Zheng:

Die 29. Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP29) findet in Aserbaidschan statt, aber die Verhandlungen über das Klimafinanzierungsziel kommen immer noch langsam voran und es gibt auch viele Streitigkeiten über die genaue Höhe und die Bereitstellungsmethode der Mittel. Was ist Ihre Ansicht über die Auswirkungen der Klimafinanzierung auf die globale Zusammenarbeit zur Emissionsreduzierung? Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die schwierigen Fortschritte bei den Verhandlungen über die Klimafinanzierung?

Fell:

Die UN-Klimakonferenz in Baku ist genauso gescheitert wie alle UN-Klimakonferenzen davor. Keine hat Klimaschutz gebracht. Damit ist die Welt auf dem Weg in die Klimahölle, wie UN-Generalsekretär António Guterres treffend beschreibt. In Paris wurde 2015 vereinbart, die Erderwärmung nicht über 1,5°C steigen zu lassen und die jährlichen Emissionen zu reduzieren. 2023 war allerdings das Rekordjahr mit über 57 Gigatonnen CO2-Ausstoß und 2024 werden wir einen durchschnittlichen Temperaturanstieg von 1,55°C erleben. Die UN-Klimakonferenzen sollten sich weniger damit beschäftigen, wie öffentliche Kassen aus überschuldeten öffentlichen Haushalten den Klimaschutz finanzieren können und sich stattdessen auf die Ziele einigen, die die Einhaltung der planetaren Grenzen für das Überleben der menschlichen Zivilisation sicherstellen: eine Abkühlung um 1°C und eine Reduzierung der Treibhausgaskonzentration unter 350 ppm CO2 – heute liegt die Erde bei 425 ppm. Der Grund für das Scheitern ist der Einfluss der globalen fossilen Industrie in den Bereichen Energie, Gebäude, Verkehr, Petrochemie und intensive Landwirtschaft. Zukünftige UN-Klimakonferenzen sollten sich darauf konzentrieren, wie wir die Erde wieder abkühlen können.

Mit einem großen Forschungsprojekt namens Holocene wollen wir mit Universitäten auf der ganzen Welt diesen Weg zurück unter 350 ppm CO2 wissenschaftlich beschreiben. Finanzierungen und Forschungskooperationen hierfür sind sehr willkommen. Der Schwerpunkt der Klimafinanzierung muss sich von der öffentlichen zur privaten Finanzierung verschieben. Es wird wichtig sein, dass Unternehmen mit emissionsfreien und kohlenstoffreduzierenden Technologien Finanzierungen erhalten, um ihnen ein schnelles exponentielles Wachstum zu ermöglichen.

Zheng:

Was sind Ihre Erwartungen im Kontext der globalen Emissionsreduzierung für diese Klimakonferenz (COP29)? Auf welche Bereiche sollte sich Ihrer Meinung nach als international anerkannter Fürsprecher der Erneuerbaren Energien-Bewegung die internationale Zusammenarbeit in Fragen der Emissionsreduzierung in Zukunft konzentrieren?

Fell:

Die UN-Klimakonferenz in Baku ist genauso ineffektiv wie alle UN-Konferenzen davor. Sie zielen nicht auf die Abkühlung der Erde ab, sondern arbeiten in erster Linie an der Finanzierung der Klimaschäden für den globalen Süden. Aber diese Schäden können nicht mit Geld ausgeglichen werden. Wenn die kleinen pazifischen Inselstaaten, wenn Alexandria in Ägypten oder auch New York und Shanghai vom Meer überflutet werden, sind die Schäden nicht mit Geld auszugleichen.

Die Weltgemeinschaft muss sich darauf konzentrieren, alle Treibhausgasemissionen in zwei bis drei Jahrzehnten vollständig zu beenden und gleichzeitig über 300 Gigatonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu entfernen. Dies kann mit 100 % Erneuerbarer Energie, einer emissionsfreien Kreislaufwirtschaft und regenerativer Land- und Forstwirtschaft sowie einer Meereswirtschaft, die Algen nutzt, erreicht werden. Dafür gibt es viele positive Beispiele: China hat in der Gobi eine Fläche von der Größe Deutschlands aufgeforstet. Ich kenne Firmen, die aus Pflanzen Bioplastik oder Biokerosin herstellen. Es gibt bereits Start-ups, die aus schwimmenden Makroalgen, deren Wachstum sich in 10 Tagen verdoppeln kann, erste Produkte wie Biokohle, Biochemikalien oder Baustoffe herstellen. Diese saubere Wirtschaft muss sehr schnell hochskaliert werden. China ist auf einem guten Weg dazu. Wenn die chinesische Regierung dies weiterhin stark unterstützt, dann kann sie bei den kommenden Weltklimakonferenzen zeigen, was der Weg zum Überleben der menschlichen Zivilisation auf diesem Planeten Erde ist.

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